Wer seine Hände ausstreckt, hat seine Furcht überwunden. Furchtlos betritt er den Zwischenraum zwischen dem Ich und den Dingen…
Skulpturen und Objekte entstehen unter den Händen des Künstlers. Mit unseren Händen können wir sie am intensivsten begreifen.
Die Kunst schafft uns Handlungsspielraum. Wir dürfen uns ausprobieren, unsere Erfahrung und Sinnlichkeit aufs Spiel setzen, um zu begreifen.
Die Augen halten nichts fest, aber die Hände tun es.
Wir können mit ihnen ganz neu, ganz unmittelbar begreifen, die Dinge, die um uns sind, die Dinge, die um uns geschehen.
Tastend die Welt begreifen, wie es die Kinder tun? Woher die Unschuld nehmen.
Unsere Augen erkennen gewöhnlich zwei, im besten Fall drei Dimensionen. Unser Tastsinn empfindet sechzehn verschiedene Tastqualitäten. Bildhauerkunst mit Hilfe der Hände sinnvoll zu Begreifen, kann ein Weg zum Verständnis sein.
Wer seine Hände ausstreckt, hat seine Furcht überwunden. Furchtlos betritt er den Zwischenraum zwischen dem Ich und den Dingen, dem Unding in unserer Mitte. Voller Vertrauen, vorurteilslos befasst er sich mit einer Sache, die undurchschaubar erscheint. Er nimmt ihr Erscheinen nicht wahr, muss nicht für wahrnehmen, was er sieht, weil er es eben nicht sieht.
Stattdessen macht er sich an seiner Hände Arbeit. Er beugt sich darüber, kniet sich hinein, hat seine Zweifel und tastet sich vorwärts, Griff um Griff, Wort für Wort, von einem ersten Erfassen zum fassungslosen Verstehen…
[aus „Pathos“, Essay zur gleichnamigen Holzskulptur von Mani Annen, Brahmsche, 1992]
…Lebe wohl, meine Hand
du warst ein liebendes Glied
zwischen mir und der Welt
[Hilde Domin]
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