Ich beginne, die Fakten zu sammeln, schichte die Informationen auf, fasse die Impressionen an den Skulpturen zusammen, sortiere nach Material und Gestaltung. Vor jedem Text befasse ich mich gelassen mit ihrer Textur, vor dem Erzählen will ich in Ruhe zählen: wie viele Objekte im Raum, wie viel verschiedene Dunkelheiten, die ich durchdringen muss?
Bald hilft nur noch tasten und träumen, bis aus den mühsamen ersten Griffen erste Begriffe werden. Einem Phonem muss das andere folgen, ein Wort wird das nächste ergeben, ein Satz den anderen bauen…
Jede Kunst leistet ihr Teil. Wortkunst ist Sprachkunst, Zeichen und Klang, logisch gebaute Struktur, die unsere Wirklichkeit über Satzbau und Handlung erfasst, nur durch Metaphern zu greifbaren Bildern führt. Dafür jedoch sind Sprache und Klang, dafür sind Wort und Musik ein rhythmisch-lebendiger Ausdruck, vergänglich wie wir und unserer Erfahrung verwandt. - Das Wesen der Form aber ist uns fremd und fasziniert uns zugleich: das Wesen der Form ist die Dauer.
Der Projektautor, aber auch Gastautoren haben seit langem Freude daran, die Formensprache der Bildhauerkunst in Texte zu übersetzen, jeder mit seinem eigenen, inneren Wörterbuch. Dichter lesen mit Hilfe der Hände Gedankenspuren aus einem plastischen Werk. Sie folgen mit ihren Fingern dem Labyrinth der Form. Der Text ist der Ariadnefaden, der sie schließlich wieder hinausführt, zu einer neuen Erkenntnis, einem neuen, authentischen Kunstwerk.
Tastwege leistet keine kunstwissenschaftliche Arbeit, auch keine Kunstkritik. Jede Ausstellung aber vermehrt die wenigen Möglichkeiten persönlicher Kunsterfahrung, die Selbsterfahrung und Welterfahrung mit einschließt. Jeder Besucher der Dunkelausstellung ist aufgefordert zu handeln, um die Kunstwerke zu begreifen. Jedem, der in den Dunkelraum tritt, tut es spürbar und hörbar gut, statt seine Ellbogen zu gebrauchen, wieder einmal etwas anderes zu üben - sein Fingerspitzengefühl.
Ob Erfahrung sich hier zu Wissen verdichtet, das mein Bewusstsein nährt, ist ein Problem des Wiederholens, des Herbeiholens und Zusammentragens einzelner Zeichen, spürbarer Tastqualitäten, scharf umrissener Innenbilder. Schicht auf Schicht löst sich von den Skulpturen Erinnerung und Erfahrung ab. Orte und Umstände klären sich, Motive und Handlungen werden spürbar, bis sie aufs Neue geschichtet, auf meine Weise verdichtet, neue Geschichten erzählen.
[aus dem Vorwort zum Katalog „Tastwege“, Krefeld 1995]
…Im Dunkeln träumt es sich heller
[Rose Ausländer]
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